Aase und der Königssohn aus dem Norden
Ein Norwegisches Märchen
Es war einmal ein König, der hatte so viele Gänse, dass er eine besondere Hirtin dafür halten musste. Sie hieß Aase. Nun aber kam ein Königssohn aus dem hohen Norden, der auf die Brautschau auszog, in das Land und da setzte sich Aase ihm in den Weg. "Was sitzt du hier, kleine Aase?" fragte der Königssohn. "Ich sitze hier, stopfe Loch um Loch und setze Lappen auf Lappen, denn ich erwarte heute den Königssohn aus dem Norden."
"Den kannst du nicht bekommen" sagte der Prinz. "Wenn ich ihn haben soll, dann bekomme ich ihn auch" sagte die kleine Aase.
Nun wurden Maler nach allen Ländern und Reichen geschickt, die sollten die schönsten Prinzessinnen malen, dann wollte der Königssohn sich eine als Gattin auswählen. Eine von ihnen gefiel ihm ausgezeichnet. Er reiste also dorthin und freite um sie, und als sie ihm ihr Jawort gegeben hatte, war er überaus froh und vergnügt.
Nun hatte der Prinz aber einen Troll, der sich nachts als Stein vor sein Bett legte und ihm alles sagte, was er wissen wollte. Als nun die Prinzessin kam, sagte Aase, das Gänsemädchen, zu ihr, wenn sie schon früher einen Geliebten gehabt oder vor dem Prinzen irgend etwas zu verheimlichen habe, dürfe sie nicht über den Stein weg schreiten, der vor des Prinzen Bett liege. "Denn er sagt ihm alles von dir.", sagte Aase. Als die Prinzessin dies hörte, wurde ihr Angst und Bange, und sie bat die kleine Aase, sich doch am Abend an ihrer statt zu dem Prinzen ins Bett zu legen; wenn der Prinz dann schlafe, wollten sie wechseln, so dass er die Richtige bei sich habe, wenn er am Morgen erwachte.
Gesagt, getan; als dann Aase in das Zimmer hereinkam, über den Stein weg schritt und der Prinz fragte: "Wer ist es, der in mein Bett steigt?", sagte der Stein: "eine Jungfrau rein und keusch.", und darauf legten sie sich schlafen. In der Nacht aber kam die Prinzessin und legte sich an Aases Stelle. Aber am Morgen, als sie aufstanden, fragte der Prinz den Stein wieder: "Wer ist es, der aus meinem Bett steigt?" Da sagte der Stein: "Eine, die schon dreimal einen Geliebten hatte." Als der Prinz dies hörte, schickte er sie sofort zurück nach Hause und wollte nichts mehr von ihr wissen, sondern nahm sich eine andere Braut.
Als er diese nun besuchen wollte, setzte sich ihm wieder Aase in den Weg. "Was sitzt du hier, kleine Aase?" fragte der Prinz. "Ich sitze hier, stopfe Loch um Loch und setze Lappen auf Lappen, denn ich erwarte heute den Königssohn aus dem Norden.", antwortet Aase.
"Den kannst du nicht bekommen.", sagte der Prinz. "Doch, und wenn ich ihn haben soll, dann bekomme ich ihn auch.", sagte die kleine Aase.
Mit dieser Prinzessin ging es ihm ebenso wie bei der ersten, nur mit dem Unterschied, dass der Stein ihm sagte, dass sie schon sechsmal einen Geliebten gehabt habe. Da jagte der Prinz auch diese wieder nach Hause. Aber er dachte, er wolle es doch noch einmal versuchen, ob es ihm nicht doch gelinge, eine reine und keusche Jungfrau zu finden. Er suchte nun in vielen Ländern, bis er eine fand, die ihm gut gefiel. Aber als er zu ihr gehen wollte, setzte sich ihm die kleine Gänsemagd Aase wieder in den Weg. "Was sitzt du hier, kleine Aase?" fragte der Prinz. "Ich sitze hier, stopfe Loch um Loch und setze Lappen auf Lappen, denn ich erwarte heute den Prinzen aus dem Norden.", sagte die kleine Aase.
"Den kannst du nicht bekommen.", sagte der Prinz. "Oh doch, und wenn ich ihn haben soll, dann bekomme ich ihn auch.", sagte Aase.
Als nun die Prinzessin kam, sagte das Gänsemädchen Aase ganz dasselbe zu ihr, was sie schon zu den anderen gesagt hatte: wenn sie schon einen Liebsten gehabt oder sonst etwas vor dem Prinzen zu verheimlichen habe, dürfe sie nicht über den Stein treten, der vor des Prinzen Bette liege. Als die Prinzessin dies hörte, erschrak sie sehr, aber sie war ebenso verschlagen, wie die beiden anderen und bat Aase, sich an ihrer statt zu dem Prinzen ins Bett zulegen, um dann in der Nacht zu wechseln, damit der Prinz am Morgen die Richtige bei sich habe.
Gesagt, getan. Als nun die kleine Aase am Abend über den Stein trat, fragte der Prinz: "Wer ist es, der in mein Bett steigt?" Da antwortete der Troll: "Eine Jungfrau keusch und rein.", und darauf legten sie sich schlafen. In dieser Nacht aber steckte der Prinz einen Ring an Aases Finger, der so eng war, dass sie ihn nicht wieder herunterziehen konnte, denn der Prinz merkte allmählich, dass alles nicht mit rechten Dingen zuging; deshalb wollte er ein Zeichen haben, an dem er die Richtige wieder erkennen könnte. Als der Prinz eingeschlafen war, kam die Prinzessin, jagte Aase in den Gänsestall und legte sich selbst an ihre Stelle. Aber am Morgen, als sie aufstehen wollten und der Prinz wieder fragte: "Wer ist es, der aus meinem Bett steigt?", antwortete der Stein: "Eine die neun gehabt hat." Als aber der Prinz das hörte, wurde er so zornig, dass er die Prinzessin auf der Stelle davonjagte.
Dann fragte er den Stein, wie es sich denn mit den Prinzessinnen verhalte, die über ihn hinweg geschritten seien, er verstehe es ganz und gar nicht. Nun erzählte der Troll, wie sich die Sache verhielt, dass die Prinzessinnen ihn angeführt hätten und das kleine Gänsemädchen Aase an ihrer Stelle gelegen habe. Der Prinz wollte es nicht glauben. Er ging deshalb hinaus aufs Feld, wo Aase die Gänse hütete, denn er wollte sehen, ob sie den Ring hätte. "Wenn sie ihn hat", dachte er, "dann wäre es wohl am besten, ich machte sie gleich zur Königin."
Als er zu ihr aufs Feld hinauskam, sah er gleich, dass sie einen Finger mit einem Lappen verbunden hatte; und so fragte er, warum sie das getan habe. "Ich habe mich in den Finger geschnitten", sagte das Gänsemädchen Aase. Der Prinz wollte nun durchaus den Finger sehen, aber als Aase ihn zurückziehen wollte, ging der Lappen ab, und nun erkannte der Prinz sogleich seinen Ring. Er nahm Aase mit aufs Schloss, gab ihr wunderschöne Kleider und köstliche Geschmeide, und dann wurde Hochzeit gefeiert. So bekam Aase, das kleine Gänsemädchen, doch den Königssohn aus dem Norden, und zwar nur, weil es bestimmt gewesen war, dass sie ihn haben sollte.